Der Islam kennt, aufgrund seines Ursprungs in tribalen Gesellschaftsformen, schon sehr lange Verfahren, welche den westlichen außergerichtlichen Konfliktbeilegungen ähneln und doch ganz eigene Besonderheiten aufweisen, die sich noch bis heute finden lassen. Das ist auch relevant für unseren Rechtsraum, da beispielsweise muslimische Geschäftspartner dadurch eine andere Sicht auf Konflikte und deren Lösung haben können. Eine Grundkenntnis dessen kann also auch den hiesigen Mediatoren und Unternehmern nützlich sein. Auf den ersten Blick wirken die in der islamischen Welt bekannten Beilegungsmethoden gar nicht so unvertraut. Tatsächlich finden sich viele Gemeinsamkeiten zwischen etwa Schiedsverfahren oder Mediation einerseits und taḥkīm (gesprochen Tahkiem) oder ṣulḥ (gesprochen: Sulh mit kurzem u und emphatischen H) andererseits. Das mag ein Grund dafür sein, dass zum Beispiel ṣulḥ als „islamische Mediation“ bezeichnet wird. Jedoch wird diese Einschätzung der Bedeutung nicht ganz gerecht. Diese Abhandlung soll ein wenig Einsicht in die Besonderheiten beim Konflikt- und Einigungsverständnis muslimischer Gesellschaften ermöglichen. Wie der Konflikt wahrgenommen wird Die meisten MediatorInnen in der westlichen Welt hören zu Beginn ihrer Ausbildung zunächst ein Axiom: Konflikte sind ein normaler Bestandteil gesellschaftlichen Zusammenlebens und können, richtig behandelt, konstruktiv für Beziehungen sein. Daraus leitet sich der Ansatz der Mediation ab. Es begründet geradezu die Arbeit von MediatorInnen. Das Konfliktverständnis in muslimischen Gesellschaften, gerade in solchen, die immer noch stark auf Familie und Clan ausgerichtet sind, ist dagegen deutlich weniger positiv. Nicht selten werden Konflikte innerhalb einer Familie oder zwischen Familien beziehungsweise im Geschäftsleben als empfindliche Störung der sozialen Ordnung wahrgenommen. Mithin gelten sie als destruktiv für die Gemeinschaft, nicht nur für die direkt beteiligten Individuen. Zudem ist Ehre, sowohl individuell wie gemeinschaftlich, von sehr großer Bedeutung. Die Ehre der Schadenverursacher ist beschmutzt, weil sie (vermutlich) gegen die gesellschaftliche Norm verstießen, die der Geschädigten, weil sie (womöglich) in eine Position der Schwäche geraten sind. Bei der Lösung einer Streitigkeit werden daher, je nach Art und Umfang des Konfliktgegenstands, eine große Anzahl an Personen mit einbezogen. Zudem sind viele soziale Riten zu beachten, die die persönliche Ehre untermauern oder wiederherstellen sollen. Das gilt selbstverständlich nicht für jeden Konflikt, aber besonders bei größeren Auseinandersetzungen werden die Eigenheiten der Verfahren deutlich. ṣulḥ – Der Friedensschluss Das Konzept des ṣulḥ lässt sich am ehesten als „Friedensschluss“ übersetzen. Es ist einerseits eine der vielseitigsten Einigungsmethoden, als auch eine der am häufigsten beschriebenen in unseren Breiten. Dabei wird es als informelles jedoch hochritualisierten Verfahren dargestellt, dass außerhalb einer Gerichtsbarkeit vollzogen wird und etwa bei Fällen der Körperverletzung und Tötungsdelikten Anwendung fand und findet, insbesondere im ländlichen Raum und in Stammesgesellschaften, wie sie gerade im Mittleren Osten noch stark vertreten sind. Da das Gewohnheitsrecht keine Trennung zwischen Strafsachen und privatrechtlichen Fällen vornimmt, kann ṣulḥ zur Lösung diverser Probleme herangezogen werden. Häufig wenden sich die Parteien an als neutral wahrgenommene, gesellschaftlich geachtete Männer, die als Schlichter fungieren und ǧāha (gesprochen Dschaaha, etwa: Geehrte) genannt werden. Je nach Rechtsschule des Islam werden auch Frauen als potentielle Schlichter betrachtet. Bei großen Konflikten, etwa bei Tötung eines Mitglieds einer anderen Familie, wendet man sich an einen nicht-involvierten Stamm. Zudem gibt es gerade bei solchen Disputen mehr als einen oder zwei Schlichter. Zusammen mit den Mitgliedern der verstrittenen Familien (wobei bei traditionellen Verfahren nur die Männer verhandeln) kommen so durchaus mehrere Dutzend Personen zusammen. Dann kann ein ṣulḥ auch viel Zeit in Anspruch nehmen; gerade bei Tötungsdelikten sind Fristen von mehreren Monaten zu wahren, die der Beruhigung der Gemüter dienen und der Vorbereitung der Verhandlung dienen. Während der Zeit stellen die Verfeindeten Bürgen, welche als Garanten der Wahrung der Waffenruhe dienen. Die Berufung der ǧāha stellt de facto ein Schuldeingeständnis dar, daher wird nur noch über Art des Ausgleichs verhandelt, bei Personenschäden beispielsweise über Höhe des Blutgeldes oder andere Zuwendungen wie Unterstützung bei Fehden mit anderen Stämmen. Ziel aller Beteiligten sollte eine Vermeidung der Wiedervergeltung sein. Daher wird immer wieder an die Ehre (welche durch das Delikt bei beiden Parteien befleckt wurde) appelliert und der Wert der Vergebung betont. Die Schlichter müssen dabei viel Verhandlungsgeschick beweisen, einerseits um eine Eskalation zu vermeiden und andererseits die Bedingungen für einen Friedensschluss auf ein realistisches Maß zu drosseln. Die Schlichter stehen dabei eher auf Seiten des Täters, dessen Tod oder Schädigung durch Vergeltung vermieden werden soll. Dass bis zum letzten Augenblick der Verhandlungen noch ein Aufflammen der Wut und Gewalt möglich ist, zeigen mehrere Fälle. Das Ende eines erfolgreichen ṣulḥ stellt dann quasi einen Neustart der Beziehungen zwischen den Parteien dar. Jedoch ist ein derartiges Verfahren nur bei großen und außergewöhnlichen Konflikten derart strukturiert. Häufig ist ṣulḥ nicht so stark ritualisiert, sondern ein Vergleich in privatrechtlichen Angelegenheiten. Dann ist auch die Verhandlung der Schuldfrage möglich, welche vom (vermeintlichen) Schuldner verneint oder unbeantwortet bleiben kann. Bei solch einem Friedensschluss wird gewissermaßen ein Vertrag neu verhandelt, durch Angebot und Annahme, und am Ende ersetzt. Das kann sehr frei geschehen, je nach Kontext sind die einzigen Bedingungen jene, die sich aus Sitte und Gesetz ergeben. Damit ist ṣulḥ gerade bei handelsrechtlichen Disputen, wie internationalen Kooperationen, ein geeignetes Instrument, zumal ein neutraler Schlichter eingesetzt werden kann, aber nicht muss. Parteien, die nicht mit den islamischen Regeln vertraut sind, sollten sich dabei kompetente Beratung in Rechtsfragen einholen. Wie bei tribalen Auseinandersetzungen kann aber ein Friedensschluss als eine „runderneuerte“ Geschäftsbeziehung mit anderen vertraglichen Bedingungen gesehen werden. Lohnenswerter als ein Abbruch der Verbindung dürfte es aber nicht selten sein. taḥkīm – das Schiedsgericht Während ṣulḥ aufgrund seiner Vielseitigkeit nur schwer mit Konzepten nach westlichem Rechtsverständnis verglichen werden kann, ist taḥkīm deutlicher einzuordnen. Seine Merkmale entsprechen dem des Schiedsgerichts. Im Koran wird es zur Verhandlung von Ehestreitigkeiten (jedoch nicht zur Scheidung!) benannt, wobei zwei Schlichter eingesetzt werden sollen, einer aus der Familie der Ehefrau und einer aus der Familie des Ehemannes. Auch hier werden im Allgemeinen Männer durch Tradition und islamische Rechtsauslegung präferiert. Viele Rechtsgelehrte vertreten die Ansicht, dass Schiedsrichter auch zum Amt des Qādī, also zum Amt des staatlich ernannten Richters zugelassen sein müssen, also umfängliche Rechtskenntnisse aufweisen sollen. Tatsächlich wird es auch bis heute so gehandhabt, sodass taḥkīm nicht nur bei Eheproblemen Anwendung findet, sondern auch bei anderen privatrechtlichen Angelegenheiten vermitteln soll. Anders als bei ṣulḥ wird aufgrund der Beweise und Argumente der Parteien anhand der Rechtslage ein Schiedsspruch gefällt, der je nach Rechtsschule als verbindlich wahrgenommen wird und auch durch ein Gericht nicht verändert werden kann, sofern das Urteil formalen und rechtlichen Ansprüchen gerecht wird. Für Nichtmuslime ist der Ausgang eines taḥkīm, vor allem in Ländern, die sich stark oder ausschließlich auf die islamische Rechtsnorm, die šarīʿa berufen, teilweise so schwer vorherzusehen, dass Experten etwa bei Vertragsproblemen von Anwendung des taḥkīm eher abraten und einen ṣulḥ oder andere Methoden empfehlen. Islamische Konflikteinigung in der Diaspora Nicht nur in muslimischen Ländern herrscht ein anderes Rechtsempfinden, zum Teil ist dieses auch bei Migranten wahrzunehmen. So kann sich der Umgang mit Konflikten bzw. deren Lösung unterscheiden, je nachdem woher die Parteien kommen. Womöglich divergieren die Kommunikation und die Sichtweise in und auf den Konflikt zwischen MarokkanerInnen und Deutschen, ebenso wie etwa zwischen ItalienerInnen und JapanerInnen. Wie dargestellt kann ein wenig Sensibilität eines Konfliktmanagers oder einer Konfliktmanagerin für Klarheit sorgen. Gerade im internationalen Arbeitsumfeld können durch sprachliche und kulturelle Barrieren Missverständnisse eher entstehen und eskalieren. Daher ist Erfahrung mit den jeweiligen Bedürfnissen ein großer Vorteil für eine/n interkulturellen MediatorIn. Problematisch jedoch ist die Tendenz in einigen Gemeinden in der Diaspora, eine Art „Paralleljustiz“ zu etablieren. Hierbei bleiben Familien aus muslimischen Ländern auch bei schweren Straftaten „unter sich“ und versuchen, durch (teilweise ohne Rechtskenntnisse ausgestattete) einflussreiche Schlichter einen Ausgleich zu finden, teilweise auch unter Anwendung von Zwang und Behinderung der Justiz. Zudem haben für einzelne Muslime Urteile reststaatlicher Instanzen keinen Belang, sofern sie nicht durch muslimische Autoritäten bestätigt werden. Zwar haben einzelne westliche Länder eine Art „Scharia-Rat“ (auch unter anderem Namen) einberufen, jedoch haben diese Institutionen ausdrücklich nur beratende Funktionen. Dass diesen Autoritäten keinesfalls eine Kompetenz zur Rechtsprechung zukommt, ist allerdings wenig von Belang, wenn es etwa um eine Scheidung geht. Für manche Familien gilt nur eine Scheidung nach islamisch-rechtlichen Regeln als rechtmäßig, was gerade bei Wiederheirat von Frauen zu Problemen führen kann. Solchen Tendenzen ist entgegenzuwirken, da sie der Integration kontraproduktiv entgegenstehen und andererseits bei vielen Bürgern für Irritationen und Vorbehalte sorgen. Die Bedeutung für MediatorInnen Für viele Arten der Mediation und außergerichtlichen Konflikteinigung kann es von Vorteil sein, ein wenig interkulturelle Kompetenz mitzubringen, sei dies in der Wirtschaft, bei Familienstreitigkeiten oder in der Schulmediation. Verständnis für die Bedürfnisse religiöser Minderheiten kann deeskalierend wirken, vor allem, wenn die Ursache für Konflikte einfache Missverständnisse sind. Es stellt den Rechtsstaat vor keine Probleme, auch spezifisch „islamische“ Mediationen zuzulassen, sofern es sich um bestimmte privatrechtliche Angelegenheiten handelt. Selbstverständlich darf er dabei nicht zulassen, dass die Kompetenzen und Pflichten der Gerichtsbarkeit und der Behörden unterminiert werden. Die vollständige Abhandlung finden Sie unter: http://coeffort-mediation.de/blog/2015/04/07/islamische-konflikteinigung-joern-bergner/
erstellt am: 10.07.2015 von Jessica Fritsch